›Yājñavalkya‹, fragte Vidagdha Śākalya, ›wie viele Götter gibt es?‹.
Der Weise antwortete: ›Drei und dreihundert, drei und dreitausend.‹
›Yājñavalkya, wie viele Götter gibt es wirklich?‹
›Dreiunddreißig‹,
›Wie viele Götter gibt es wirklich, Yājñavalkya?‹
›Sechs‹.
(nach: Bṛhadāraṇyaka Upaniṣad III.9.1.)
Vidagdha Śākalya stellt wiederholt die gleiche Frage, und jedes Mal ist die Antwort des Weisen eine andere. Auch in der Gegenwart, Jahrhunderte nach der Entstehung dieses Dialogs (ca. 4. und 5. Jh. v. Chr.), wird Vidagdha Śākalyas Frage nach der Anzahl der Gottheiten im sogenannten ›Hinduismus‹ unterschiedlich beantwortet. So begegnet man in der wissenschaftlichen Literatur zum ›Hinduismus‹ sowohl der Vorstellung einer einzigen göttlichen Seele als auch der Idee einer unüberschaubaren Zahl von Gottheiten.
Der sogenannte ›Hinduismus‹
Die Ursache für diese widersprüchlichen Antworten liegt in dem problematischen Sammelbegriff ›Hinduismus‹. Dieser Terminus, der suggeriert, es gäbe nur den einen ›Hinduismus‹, fasst verschiedene religiöse und kulturelle Strömungen mit ihren unterschiedlichen Lehren und Praktiken zusammen und beschreibt – je nach Definition – eher eine Kultur oder eine Religion. Einige Forschende plädieren daher für die Aufgabe dieses Terminus. Gegen den Gebrauch dieser Vokabel stehe, so wird argumentiert, dass der ›Hinduismus‹ eine durch die koloniale Wissenschaft geschaffene Einheit sei. Für die Verwendung des Begriffs spricht jedoch, dass diese ursprüngliche Fremdbezeichnung zu einer Selbstbeschreibung von Millionen von Menschen geworden ist, die sich trotz unterschiedlicher Traditionen gemeinsam als Hindus verstehen. Es erscheint daher nicht nur für zahllose religionswissenschaftliche Publikationen, sondern auch für die alltägliche schulische Kommunikation sinnvoll zu sein, weiterhin den Terminus ›Hinduismus‹ zu verwenden und hierdurch den inneren Zusammenhang dieser auf dem indischen Kontinent gewachsenen Religion und nicht die Unterschiede zwischen den verschiedenen hinduistischen Traditionen in den Vordergrund zu stellen.
Der ›Hinduismus‹ im Schulbuch
Der ›Hinduismus‹ mit seinen unterschiedlichen regionalen und überregionalen, teilweise monotheistischen, teilweise eher polytheistischen Ausprägungen findet in den deutschsprachigen Lehrplänen nur wenig Beachtung. Die geringe Präsenz des ›Hinduismus‹ in den Curricula ist erstaunlich, da eine Auseinandersetzung mit dieser sogenannten ›Weltreligion‹ die Lernenden nicht nur befähigen kann, in einer religionspluralen Gesellschaft zu leben und diese mitzugestalten, sondern mit dem dharmischen Modell auch eine Reflexion der eigenen Religiosität vor dem Hintergrund einer Alternative zu den abrahamitischen Glaubensinhalten ermöglicht. Vor diesem Hintergrund stellt sich die Frage, welche Indizien für ein gelungenes Schulbuchkapitel zum ›Hinduismus‹ sprechen, in dem auf nur wenigen Doppelseiten »religiös relevante Phänomene, Themen und Fragestellungen« mithilfe spannungsreicher Medien und sach- und schülerorientiert den Lernenden »authentisch zugänglich « (Porzelt 624) gemacht werden müssen.
Ein Blick über den Ärmelkanal
Exemplarisch kann dieser Frage anhand einer Schulbuchseite aus dem englischsprachigen Werk »Living Faiths. Hinduism« für 11- bis 14-Jährige (Keystage 3) der Autorin Neera Vyas aus dem Jahr 2013 nachgegangen werden. Der Reiz dieser Arbeit liegt in dem multireligiösen, tendenziell phänomenologischen Ansatz des nicht-konfessionellen Unterrichts in England, der den ›Hinduismus‹ eher als eine praktizierende Religion ›von nebenan‹ darstellt. Im Kapitel »What do Hindus Believe?« wird unter der Überschrift »One Supreme Spirit in Many Forms« das Göttliche als Thema fokussiert. Zuerst werden auf dieser Doppelseite im Bereich »Learning Objectives« die angestrebten Lernziele (z. B. Erforschung und Analyse von Vorstellungen vom Göttlichen) offengelegt, bevor die Lernenden durch einen »Starter« angeregt werden, eine Mindmap zu ihren verschiedenen Rollen im Leben zu erstellen.
Es folgt ein kurzer Sachtext, der die Idee einer Gottheit erläutert, die sich in verschiedenen Formen manifestiert und in Zeiten der Not in die Welt kommt. Drei Begriffe aus diesem Textabschnitt werden im anschließenden Informationskasten »Useful Words« kurz definiert.
Die linke Hälfte der Doppelseite wird dominiert von einer Vishvarupa, einer ikonischen Darstellung einer Gottheit in unterschiedlichen Manifestationen. In einer dazugehörigen Aufgabe überlegen die Lernenden, ob diese Illustration hilft, das Konzept »One Supreme Spirit in Many Forms« besser zu verstehen. Auf der rechten Seite im Abschnitt »Case Study« nennen drei junge Hindus, die in England leben, ihre Lieblingsmanifestation des Göttlichen und begründen ihre Wahl. Fotos der drei Mädchen und die Darstellung von zwei ihrer bevorzugten Formen des Göttlichen ergänzen ihre Aussagen. Es folgt eine Reflexionsfrage, in der die Lernenden aufgefordert werden, darüber nachzudenken, ob es eine Rolle spielt, wie sich Gläubige das Göttliche vorstellen. Die Seite schließt mit vier »Activities«, in denen die Lernenden aufgefordert werden, sowohl das Konzept »One Supreme Spirit in Many Forms« mit ihren eigenen Worten/Symbolen zu erklären als auch die Aussagen der drei Mädchen aus verschiedenen Perspektiven zu vertiefen.
Erste Beobachtungen
Neben unterschiedlichen inhaltlichen und didaktischen Fragen können die folgenden drei Schlaglichter helfen, Hinweise auf eine gelungene Schulbuchseite zu erkennen.
Erste Beobachtungen
- zur Fokussierung auf zentrale Aspekte: Um der Gefahr zu entgehen, sich in Details einer Religion zu verlieren, ist es wichtig zu versuchen, zentrale von peripheren Aspekten zu unterscheiden. Mit dem Konzept »One Supreme Spirit in Many Forms« wird auf den vorliegenden Schulbuchseiten ein zentraler Aspekt des ›Hinduismus‹ fokussiert, der sowohl in den verschiedenen schriftlichen Bezugspunkten des ›Hinduismus‹, wie den philosophischen Upanischaden oder dem indischen Nationalepos Mahabharata, als auch in der religiösen Praxis, z. B. bestimmter vishnuistischer Strömungen verbreitet ist.
- zur inneren Pluralität: Obwohl in den Schulbüchern, wie schon die Verwendung des Begriffs ›Hinduismus‹ zeigt, der innere Zusammenhang der verschiedenen religiösen und kulturellen Strömungen dieser Religion betont wird, ist es wirklichkeitswidrig, den ›Hinduismus‹ als monolithisches Gebilde darzustellen. Nur eine Vorstellung vom Göttlichen (»One Supreme Spirit in Many Forms«) wird in der vorliegenden Doppelbuchseite erläutert und erkundet. Die innere Vielfalt und Vielstimmigkeit der hinduistischen Lehre und des hinduistischen Lebens wird dennoch sowohl im Sachtext als auch im Bereich »Case Study« deutlich, da die Autorin durchgängig Formulierungen wie »many Hindus believe« verwendet und Aussagen von drei Kindern aus unterschiedlich religiös sozialisierten Familien auswählt.
- zur Wiedererkennbarkeit: Inwiefern »eine Religion im Unterricht angemessen zur Geltung kommt«, hängt u. a. davon ab, »ob deren Anhänger/innen in der unterrichtlichen Darstellung ihren eigenen Glauben« (Porzelt/ Stögbauer 220) wiedererkennen können. Diesen Moment des Wiedererkennens möchte Vyas den hinduistischen Lernenden des nicht-konfessionellen Unterrichts in England ermöglichen, indem sie neben einem Dokument aus der Glaubenstradition (»Vishvarupa«) gleichberechtigt drei unterschiedliche aktuelle Deutungen aus der Innenperspektive (»Case Study«) von gleichaltrigen Kindern aus England präsentiert.
»Wie viele Götter gibt es wirklich?«
Eine Schulbuchseite zum Thema ›Hinduismus‹, die die innere Pluralität dieser Religion berücksichtigt, zentrale von peripheren Aspekten unterscheidet und die Innenperspektive einbezieht, ist nicht zwangsläufig gelungen. Didaktische Einwände, inhaltliche Fehler oder unzureichende Vergleiche mit anderen Religionen können beispielsweise gegen den Einsatz dieses Werkes sprechen. Anhand der drei kurz skizzierten Schlaglichter lässt sich jedoch nachvollziehen, ob eine authentische Darstellung dieser schillernden Religion angestrebt wird, in der eine neokolonialistische, romantisierende oder gar historisierende Perspektive auf den Hinduismus vermieden wird (Innenperspektive/ Wiedererkennbarkeit) und in der nicht der Eindruck entsteht, ›der Hinduismus‹ sei ein monolithisches Gebilde (innere Pluralität), der auf die Frage »Wie viele Götter gibt es im Hinduismus? « nur eine Antwort kennt.