So richtig homogen war meine Klasse einer kleinen ländlichen Grundschule eigentlich nie: Die Kinder waren verschieden im Alter, Geschlecht, Größe, sie hatten verschiedene Interessen und Talente. Einige wenige wuchsen mehrsprachig auf, hatten Eltern(-teile) aus verschiedenen Ländern und auch unterschiedliche Haar- und Hautfarben oder Temperamente. Seit Beginn meiner Arbeit mit dieser Gruppe war es mir wichtig, jedes einzelne Kind individuell wahrzunehmen, in seinem Lernen zu begleiten und zu fördern. Differenzierte Arbeitsaufträge, Hausaufgaben und Lernkontrollen, Plan- und Stationsarbeiten mit unterschiedlichem Umfang und Anforderungsbereichen gehörten zu unserem Alltag. Auch mit religionspädagogischem Blick entdeckte man schnell Unterschiede hinsichtlich der religiösen Sozialisation, der Motivation, an religiösen Themen zu arbeiten oder sich am Religionsunterricht überhaupt zu beteiligen – ganz gewöhnliche Heterogenität im schulischen Alltag.
Und dann passierte es: Es war Herbst 2015, als immer mehr geflüchtete Familien aus Syrien und Afghanistan in der Erstaufnahmeeinrichtung unweit der Schule ankamen. Es wurde absehbar, dass bald einige neue Kinder ihren Weg zu uns finden würden und meine gewöhnlich heterogene Klasse erschien im Licht der Neuankömmlinge plötzlich ungewohnt homogen: Alle Kinder sind in Deutschland geboren und aufgewachsen. Sie sprachen alle deutsch. Sie hatten kulturelle Gepflogenheiten wie Kleidung, Zeit strukturierende Rituale wie z. B. den Sonntag als Ruhetag, Weihnachten oder Ostern als Feste im Jahreskreis verinnerlicht. Sicherlich gab es verschiedene Ausgestaltungen und Konnotationen innerhalb der Familien. Aber im Großen und Ganzen waren alle Schülerinnen und Schüler dieser Klasse demselben christlichen, abendländischen, ländlichen Kulturkreis zuzuordnen. Das waren »wir«. Da kamen die »anderen«?
Es kommt darauf an, wie wir Homogenität und Heterogenität wahrnehmen.
Diese »anderen« waren Fatima, Ghada und Parisa, die im Frühjahr 2016 in meine Klasse eingeschult wurden. Für die Schülerinnen und Schüler waren es drei neue Kinder, die zunächst so anders schienen als sie selbst. Kinder, die unterschiedliche Herkunftssprachen sprachen, aber kaum ein Wort Deutsch.
Spielend meistern Kinder Sprachbarrieren
Mitschülerinnen, die kein oder nicht ausreichendes Unterrichtsmaterial, keine Stifte, kein Sportzeug, ja manchmal nicht einmal etwas zum Essen mitbrachten. Kinder, die zunächst schüchtern und zurückhaltend waren, dann aber auch miteinander durchaus kicherten. Kinder, die im Unterricht in einer anderen Sprache miteinander tuschelten. Kinder, mit denen man in der Pause auch ohne viele Worte Fangen, Verstecken oder Ball spielen konnte. Für die drei neuen Mädchen war auch so vieles neu: Schule, Sprache, Schrift, Kultur, Umgebung, Kinder, Lehrerinnen … Manches war für sie sehr anstrengend. Immer wieder berichtete der Busfahrer, dass eines der Mädchen auf dem Weg nach Hause von Zeit zu Zeit einschlief. Machten die drei Mädchen nun den Unterschied? War unsere Klasse nun erst »richtig heterogen «?
In neuen Situationen können aus Erfahrungen und vorhandenen Kompetenzen neue Lösungen bieten
Für mich als Klassenlehrerin war es zunächst eine Herausforderung, drei Schülerinnen ohne Deutschkenntnisse, ohne Kenntnisse des lateinischen Schriftsystems in die Klasse zu integrieren; kannte ich doch weder ein Wort Farsi noch Arabisch. Gleichzeitig alle möglichst individuell zu unterrichten und dabei auch die vorgegebenen Unterrichtsinhalte des 2. Schuljahres nicht aus den Augen zu verlieren, glich bisweilen einer »Mission impossible«. Eine noch stärkere Binnendifferenzierung und Individualisierung waren für die Planung und Durchführung meines Unterrichts unumgänglich. Ohne Frage eine aufwendige Vorbereitung, die andere Aspekte der Heterogenität zu beachten hatte! – Aber neu war diese Art zu unterrichten nicht. Aus der Englischdidaktik (Teaching English as a Foreign Language) adaptierte ich Methoden für das Classroom management und den DaZ-Unterricht (Deutsch als Zweitsprache). Der Blick für die neuen Kinder und meine Haltung ihnen gegenüber speiste sich auch aus meiner eigenen Migrationserfahrung. War ich doch selbst damals auch ohne Deutschkenntnisse in eine 2. Klasse eingeschult worden. Jedes der Mädchen hatte eine persönliche Geschichte mitgebracht, wie jedes andere Kind der Klasse auch, und jedes hatte Wünsche für die Zukunft, wie jedes andere Kind der Klasse auch. Was uns außerdem verband und bewegte, war die gemeinsame Gegenwart. Eine Gegenwart, in der für alle vieles neu war. So war es mir besonders wichtig, dass alle Kinder der Klasse eine Klassengemeinschaft bildeten; allen Unterschieden zum Trotz und mit individueller Vielfalt als Ressource. Somit galt es, Gemeinsamkeiten, gemeinschaftsstiftende Elemente und Verbindendes zu nutzen. Da die sprachlichen Hürden gerade anfangs noch groß waren, konnten gemeinsame Erlebnisse die Brücke zum Gemeinsinn der Klasse bilden.
Im Umgang mit Heterogenität hat Religionsunterricht eine Schlüsselfunktion
Die grundlegende (christliche) Haltung, die im Mitmenschen – und dazu zählen auch Schüler* innen – den Nächsten sieht, gibt dem Religionsunterricht für den Umgang mit unterschiedlichen Lernenden die Richtung vor. Erlebbares wie Rituale oder performative Elemente, die an elementare menschliche Erfahrungen anknüpfen (vgl. Mendl, 2008), bilden die Grundlage unseres schulischen Alltags. Rituale und ritualisierte Abläufe helfen dabei, sich zu orientieren, geben Sicherheit, ermöglichen Gemeinschaft und Teilhabe am Unterricht, in Handlungen auch ohne dass dabei viel gesprochen oder erklärt werden müsste. Fatima, Ghada und Parisa konnten unsere Worte noch nicht verstehen und wir ihre nicht, aber wir konnten einander etwas zeigen mit Mimik, Gestik und Gegenständen. Sie beobachteten mich und ihre Mitschüler*innen genau und imitierten uns und machten einfach mit.
Eine der eindrucksvollsten Einheiten in diesem Zusammenhang boten Stunden, in denen es um das Gleichnis vom Barmherzigen Samariter (Lk 10,25–37) ging: Jesus veranschaulicht, wie Nächstenliebe gelebt werden kann. Dazu wählt er einen Samariter – aus Jerusalemer, jüdischer Sicht einen Fremden, mit dem man sich nicht abgibt – als Protagonisten und Vorbild, weil er sich dem Verletzten gegenüber als Nächster erweist und Hilfe leistet.
Jesus veranschaulichte seine Botschaft, indem er Geschichten erzählte
In einem ersten Schritt erzählte ich den Schülerinnen und Schülern die Geschichte langsam, in einfachen Worten und mit der Unterstützung von Stimme, Mimik, Gestik und Bildern, damit alle folgen konnten. Anschließend spielten wir die Szenen mehrfach mit unterschiedlicher Besetzung und jeweils unterschiedlichen Beobachter* innen nach. Jedes Mal erhielten die Kinder nach dem Rollenspiel die Gelegenheit, ihre Gedanken zur jeweils eingenommenen Rolle schriftlich oder in Bildern festzuhalten. In Gruppen haben sich die Kinder dann darüber ausgetauscht, was sie wahrgenommen haben. Teilweise haben sie auch die Handlungen der jeweiligen Personen beurteilt. Wichtig war ihnen dabei, was für den Verletzten gut und hilfreich war. Denn das hätten sie sich an seiner Stelle auch so gewünscht. Jedes Kind hatte seine Erfahrungen vom Gestürzt- oder Verletztsein erinnert und für das Deuten des Gleichnisses genutzt. Ein Beispiel gelungener Korrelation innerhalb dieser einen religiös sehr heterogenen Klasse, in der nun muslimische, christlich getaufte und ungetaufte Kinder gemeinsam lernten.
Neue Fragen rütteln am Althergebrachten und lassen es wieder lebendig werden
Wie viel wir voneinander und miteinander in unserer Klasse lernen können, zeigte sich in der Vorweihnachtszeit mit all ihren scheinbar bekannten Symbolen und Ritualen. Weihnachtslieder wurden eingeübt, montags traf sich die Schulgemeinde zum Adventssingen auf dem Schulhof bei Kerzenschein und Adventkranz, Plätzchen wurden gebacken, ein Adventskalender begleitete uns und am letzten Schultag besuchte die ganze Schule den selbstgestalteten Gottesdienst in der örtlichen Kirche.
Viele neue Fragen tauchten in der Planung auf und rüttelten am Althergebrachten: Welche unserer Rituale sind (noch) religiös motiviert? Welche sind kulturell gewachsen? Welche Symbole verwenden wir? Wie thematisiere ich »Weihnachten« mit muslimischen und christlichen Kindern zugleich, wenn die Lernausgangslagen so unterschiedlich sind? Dürfen Fatima und Ghada (Parisa war zwischenzeitlich weggezogen) mit in den Gottesdienst? Wie bespreche ich das mit ihren Eltern? Angesichts des erneuten Mehraufwands stellte sich mir zwischenzeitlich die Frage, ob es nicht einfachere Wege gäbe.
Heterogenität eröffnet Horizonte und ermöglicht Lernprozesse
Doch was wären die Alternativen gewesen: Ausschluss der Musliminnen, Reduktion der Weihnachtszeit auf Oberflächliches und der Verzicht auf den christlichen Kern der Geburt Jesu in unsere Welt? Das schien mir weder praktikabel noch, von meiner religiösen und religionspädagogischen Überzeugung her, verantwortbar. Glücklicherweise zeigten sich die Eltern der muslimischen Kinder in meiner Klasse in einem Gespräch mit der Dolmetscherin offen für den Unterricht und die damit verbundenen Rituale, Themen und Vorhaben. Sie teilten meinen Glauben nicht, respektierten jedoch meine Haltung. Sie äußerten den Wunsch, dass ihre Kinder die Kultur, in der sie nun ankamen, kennenlernen und verstehen sollten.
Ein performatives Experiment begann. Wir machten uns gemeinsam auf einen ungewohnten Weg durch die Adventszeit. Ungewohnt deshalb, weil unsere veränderte Heterogenität uns achtsamer und bewusster auf all das blicken ließ, was uns Jahr für Jahr in der Vorweihnachtszeit begleitete, und auch ungewohnt, weil ich als Lehrperson nicht mehr ausschließlich die Impulse vorgab. Es waren Ghada und Fatima, die die Fragen stellten. Außerdem muss ich gestehen, dass sie ihre Fragen auch nicht in erster Linie an mich richteten. Die Kinder sprachen miteinander, suchten Erklärungen, reflektierten und gaben ihr Wissen weiter. Ich beobachtete und stand beratend zur Seite, wenn man nicht weiterwusste. Unsere gemeinsame Zeit und das gemeinsame Lernen öffnete uns allen erst durch die Heterogenität den Weg zu neuen Reflexionsprozessen.
Aus diesen Erfahrungen heraus bin ich überzeugt, dass Homogenität in Klassen weder real existent noch erstrebenswert ist. Es sind die Unterschiede, die uns weiterbringen und lernen lassen! Mit Blick auf die wachsende Heterogenität und Diversität, die verstärkt sichtbar (gemacht) wird, freue ich mich auf die vielen wunderbaren Lernchancen, die sich uns bieten. Sie haben eine heterogene Klasse? – Glückwunsch!
Literatur
Mendl, Hans, Religion erleben. Ein Arbeitsbuch für den Religionsunterricht, München 2008.
Fernys-Adamietz, Helena, Erfahrungen aus einer Grundschulklasse. Als Fatima, Ghada und Parisa Schülerinnen meiner Klasse wurden, in: Annegret Reese-Schnitker/ Daniel Bertram/Marcel Franzmann (Hg.), Migration, Flucht und Vertreibung. Theologische Analyse und religionsunterrichtliche Praxis, Stuttgart 2018, 299–302.
Lesen Sie hier den Artikel im PDF-Format.