Während Singkreise mit spirituellen Liedern florieren, werden Kirchen leerer. Offenbar scheint es eine Sehnsucht nach spirituellen Erfahrungen durch derartige Gesangsformate zu geben. Kann diese Sehnsucht auch in Kirchenräumen erfüllt werden? Was sind Potenziale und Grenzen derartiger Angebote? Inwiefern lassen sich Elemente der Selbst- und Raumwahrnehmung sowie Meditation und Stille sinnvoll einbinden?
Singkreise in Kirchenräumen als offenes Angebot?
Für kirchliche Insider ist der Zusammenhang von Religion und Singen offensichtlich. Natürlich wird in Gottesdiensten gesungen, natürlich gibt es Chöre, jeder kennt meditative Taizéabende. Nur ist ebenso klar: Solche Angebote erreichen die, die ohnehin mit Kirche in Berührung stehen bzw. sich einer festen Gruppe anschließen möchten. Intensive Erfahrungen in nicht christlichen Singkreisen und Meditationsgruppen brachten mich zu der Idee, diese mittlerweile getrennten Welten neu miteinander in Berührung zu bringen: die verbreitete Sehnsucht nach meditativ-musikalischer Selbstbesinnung auch von »Kirchenfremden« hier und dort das Repertoire musikalischer Traditionen und räumlicher Angebote auf christlicher Seite.
Aus dieser Idee entwickelte sich ein regelmäßiges, niederschwelliges Angebot, das die Kraft des Singens repetitiver Gesänge in einem Kirchenraum erfahrbar werden ließ – und zwar auch für Menschen, die sonst kaum diese Kirche betreten hätten. Dazu war es zunächst wichtig, in Abgrenzung zu einem Chor, dass sich die Gruppe auf eine offene Einladung hin spontan zusammenstellte, ohne Voranmeldungen oder Verpflichtungen. So wurde im Flyer das Angebot beschrieben als »meditativer Start in den Tag: Stille, Atem, Klang, Gesang«. Die Worte »Taizé-Gesänge«, »Chants«, »Friedenslieder «, »Lieder aus aller Welt« waren im Hintergrund abgedruckt und neben den Rahmendaten ein kurzer, offener, einladender Text formuliert: »Du hast Lust, klangvoll in den Tag zu starten? Egal, ob du denkst, du kannst nicht singen, bist ein Morgenmuffel, oder ob du schon lange auf so ein Angebot gewartet hast – komm vorbei!«
Es entwickelte sich ein einstündiges Angebot, welches zweimal in der Woche um acht Uhr morgens stattfand. Gemeinsam ankommen, in Stille sein, meditieren, bewusst atmen, präsent sein, den Körper wecken, den Kirchenraum (neu) spielerisch erkunden, innere und äußere Klangräume entdecken, tönen, Gefühle wahrnehmen, spirituelle Lieder singen, im Singen Gemeinschaft erfahren. Diese Elemente prägten das Konzept.
Wesentliche Gestaltungselemente und Ablauf
Zur Vorbereitung hatte ich Liederhefte zusammengestellt (siehe Infobox) und nutzte während der Durchführung eine Klangschale und eine chromatische Tonpfeife zur Verfügung. Nach einer kurzen persönlichen Begrüßung am Eingang der Kirche suchten sich die Teilnehmenden einen Platz ihrer Wahl in der Kirche (5 min), dann wurde eine Meditation angeleitet (5–7 min), die Kirche spielerisch erkundet (5–8 min), Körper und Stimme aufgewärmt (10–20 min), gemeinsam getönt und gesungen (20–30 min), ein Abschlusskreis gebildet und im Anschluss optional weitergesungen oder gemeinsam gefrühstückt.
»Ich darf einfach so da sein,
wie ich gerade hier bin.
Und das in einer Kirche.«
(Janek, 23 Jahre)
Statt direkt in der Gruppe zu beginnen, gab ich einen individuellen Impuls am Eingang der Kirche: »Suche dir in der Kirche einen Ort, zu dem es dich hinzieht, das kann wirklich überall sein. Gehe deinen Impulsen nach. Finde den Platz, wo du für ein paar Minuten ankommen möchtest. Und wenn es dich nach dem ersten Versuch woanders hinzieht, gehe diesem Impuls nach und finde deinen Platz für die nächsten Minuten, so wie es sich jetzt für dich stimmig anfühlt.« Dieser Bruch mit Konventionen, wo man sich hinzusetzen habe, war anfangs lediglich ein Experiment, das sich allerdings das gesamte Projekt hindurch bewährte. Die Teilnehmenden waren dadurch in der folgenden angeleiteten Ankommensmeditation in der Kirche verteilt und konnten bei sich und im Raum ankommen.
Tönen ist das freie Klingen der Stimme ohne Begrenzung durch ein Lied, eine Melodie oder einen vorgegebenen Rhythmus. Das Tönen geschieht spontan und intuitiv und die Teilnehmer* innen lauschen dem Zusammenklang der Stimmen, der sich kontinuierlich ändert.
Liedauswahl: Bewährt haben sich Friedenslieder (z. B. Hewenu Shalom in mehreren Sprachen, Shalom Chaverim), Taizégesänge (besonders bei gesanglich fortgeschrittenen sowie christlich vorgeprägten Gruppen), Chants (z. B. The River is flowing, Hoch in den Himmel wie ein Baum, Atme den Wind, Evening Rise); Mantren (z. B. Om Tare Tuttare), weitere einfache, deutsch- oder englischsprachige spirituelle Gesänge.
Singkreise treffen sich üblicherweise ohne Voranmeldung und bedienen sich einfacher, repetitiver, häufig spiritueller Gesänge verschiedener Traditionen (z. B. Chants, Mantren, Taizélieder). Es gibt keine Proben und keine Aufführungen. Die Kreisform ist auch ein symbolischer Ort der Integration und der gegenseitigen Wertschätzung, dass jede*r unabhängig von der individuellen Vorerfahrung willkommen ist.
Aus dieser Stille heraus gab ich die Aufforderung, den Kirchenraum zu entdecken, die Sinne zu nutzen und eigenen Impulsen »wie ein kleines Kind« zu folgen (z. B. tasten, klopfen, hinschauen, riechen, rennen, ganz langsam laufen, krabbeln, je nach Gruppe ggf. ohne Schuhe klettern). Dieses spielerische, experimentelle Element wurde in Feedbackrunden hervorgehoben. Es führe zu starker Präsenz und einem Wohlbefinden im Kirchenraum mit sich und den anderen und sei damit zentral für das Gelingen des weiteren Programmablaufs. Die Idee dazu kommt aus dem professionellen Tanz, wo Tänzer*innen sich mit ihrer Bühne vertraut machen, um sich im umgebenden Raum sicher zu fühlen, und ist auch in der Kirchenraumpädagogik bekannt.
Nach der Selbsterfahrung im Raum kamen alle im Kreis zusammen. Es folgten Körperdehn-, Atem- und Einsingübungen. In diese Aufwärmphase integrierte ich bewusst Chorund Leitungselemente, die in außerkirchlichen Singkreisen üblicherweise nicht vorkommen. Vor dem eigentlichen Singen »tönten« wir manchmal gemeinsam (siehe Infobox). Die Methode ist simpel, effektiv, oft ungewohnt und gibt die Möglichkeit, sich frei auszudrücken, was gerade in einem Kirchenraum von den Teilnehmenden sehr geschätzt wurde und im positiven Sinne irritierend war: »Ich darf einfach so da sein, wie ich gerade hier bin. Und das in einer Kirche« (Janek, 23 Jahre).
Während des anschließenden Singens variierte ich verschiedene Aufgabenstellungen, z. B. »gehe durch den Raum«, »wie ist es im Sitzen, Stehen, Liegen, nah oder fern zu den anderen zu sein?«. Zudem leitete ich dazu an, mit der Lautstärke zu spielen. Nach jedem Lied sollte als zentrales Element für einen Moment des Nachklingens in der Stille innegehalten werden, um das Erfahrene zu integrieren.
Erfahrungen
Obschon die Grundstruktur beibehalten wurde, waren die jeweiligen Dynamiken oft unterschiedlich. So lebten Tage mit wenigen Teilnehmer* innen eher von einer vertraulichen Atmosphäre, die häufig auch das Teilen emotional berührender Erinnerungen zuließ: »Mit meiner Oma war ich früher in der Kirche und seitdem nun zum ersten Mal wieder – jetzt fühle ich mich sehr verbunden« (Anne, 25 Jahre). An anderen Tagen kamen über 20 Teilnehmende und es entstand durch die Klänge der Stimmen beim Tönen und Singen ein intensives Gemeinschaftsgefühl.
Was zeichnet das Programm aus und wie wirkte es? »Wahrnehmen und präsent sein mit dem, was sich in der Stille und im gemeinsamen Singen zeigt«, summierte eine Teilnehmerin. Der spezifische Ablauf führte dazu, dass eine Öffnung vom Ich – »Wie geht es mir? Wo fühle ich mich heute wohl? Ich beruhige meinen Geist, wärme meinen Körper und Stimme auf« – zu einem Wir – »Mit wem bin ich hier? Ein gemeinsamer Stimmklang und ein Gefühl von Verbundenheit entsteht« – beschrieben wurde. In Rückmeldungen sprachen manche davon, dass sich ein innerer Raum für die Frage nach Gott und einem teilweise tiefen Berührtsein ergab. Durch das spielerische Entdecken vor dem gemeinsamen Singen machten sich die Teilnehmer*innen den Kirchenraum selbst »zu eigen«. Einige formulierten den Vorschlag, dass Angebote dieser Art doch auch Einzug im Religionsunterricht erhalten sollten, da durch die Entdeckung des Raumes und der eigenen Stimme ein spielerisches Sich-selbst-Erfahren im Kirchenraum gefördert würde und es einen neuen Blick auf den (Kirchen-)Raum geben könne. Dies auszuprobieren wäre ein nächster sinnvoller Schritt.
Herausforderungen sind das Erreichen der Zielgruppe sowie die spezifischen Anforderungen an die Leitungsperson. Wichtig war es zudem, mit Vorbehalten von Kirchengremien (»auf Bänke klettern? Und was ist, wenn jemand ans Kreuz geht?«) umzugehen. Diese lösten sich durch das tatsächliche Erleben der Freude am spielerischen Entdecken wieder auf, da die Teilnehmenden achtsam und rücksichtsvoll mit den Gegebenheiten umgingen: »Also auf die Idee, mich mal auf die Bank zu stellen, ans Fenster zu klopfen oder den Altarraum zu entdecken, kam ich noch nie – das sind ganz neue, anregende Perspektiven in diesem, meinem Gotteshaus« (Martin, 63 Jahre).
Warum hat dieses Projekt funktioniert und was für Erkenntnisse lassen sich für weitere Angebote gewinnen? 1.) Das meditative Ankommen und experimentelle Entdecken des Raumes fördern ein unbefangenes, freies Gefühl im Kirchenraum. 2.) Im Vergleich zu üblicher Liedarbeit sind die unverbindlichen Angebote, das Tönen und Singen »einfach singbarer«, repetitiver Gesänge von jüngeren Menschen sehr gut angenommen worden. 3.) Die Mischung aus Stille, Bewegung und Gesang bei äußerlich klarem Rahmen erlaubte eine hohe Flexibilität, auf die Bedürfnisse der jeweiligen Gruppe einzugehen und gleichzeitig Ritualcharakter für Personen zu bieten, die wiederholt teilnahmen.