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REFLEXION
Michael Blume
Zwischen Querdenkern und Klimakrise – Von falschen und richtigen Propheten
Das Bild von Propheten hat sich in der Religionsgeschichte immer wieder verändert. Was meint der Begriff »Prophet« in unterschiedlichen Zeiten und Zusammenhängen? Wie hat er sich verändert? Wer berief sich auf die prophetische Tradition? Wer zu Recht? Wer zu Unrecht? – Und heute?
Im frühen Judentum gelten Propheten als von Gott berufene Warner, die mutig Herrscher, Volk und auch Tempel aufrufen, ihr Verhalten gottgefällig zu ändern, um so noch Unheil abzuwenden. Die von den machtvollen Worten jener frühen, biblischen Propheten ausgehende Verschmelzung jüdischer und christlicher Traditionen bescherte uns in der Geschichte nicht nur einen nie versiegenden Strom religiöser Apokalyptiker (»Kehret um, denn das Ende ist nahe!«), sondern auch eine bedeutende, religiös-politische Gattung der Rhetorik: Die nach dem Propheten Jeremia genannte Jeremiade.

Die rhetorische Form der Jeremiade


Die Jeremiade erwuchs im 19. Jahrhundert vor allem in den USA, als Tausende Prediger und auch erste Predigerinnen wie die (in Europa zu Unrecht kaum bekannte) Antoinette Brown-Blackwell (1825–1921) im Rausch der neuen US-Freiheiten nicht mehr nur die eigene Gemeinde adressierten, sondern die religiös und politisch vielfältige Öffentlichkeit. So sprach und schrieb Brown-Blackwell als erste ordinierte Pastorin der Vereinigten Staaten in Kirchen und Sälen über die Befreiung der Sklaven, gegen den Alkoholmissbrauch, für das Frauenwahlrecht, für die wissenschaftliche Bildung (sie schrieb u. a. ein bedeutendes Buch über die Evolution der Geschlechter) und gegen Gewalt in Familien. Diese Verschmelzung von religiösen Gerechtigkeitsforderungen und politisch- säkularen Anliegen prägten die Gesellschaft, Politik, ja Zivilreligion der USA und anderer Länder – und fand ihren Höhepunkt in der berühmtesten Rede des 20. Jahrhunderts, »I have a dream« von Martin Luther King jr. Die Jeremiade breitete sich aus und prägte auch kirchliche Proteste – man denke an die Umwelt-Enzyklika »Laudato si« des aus Argentinien stammenden Papstes Franziskus mit dem keineswegs nur an katholische Christen gerichteten Ausruf: »Diese Wirtschaft tötet. «

Die islamische Welt und das »Siegel der Propheten«


In der islamisch geprägten Welt galt dagegen der Prophet Muhammad als »Siegel der Propheten «, nach dem es keine prophetische Rede mehr geben würde, sondern allenfalls noch Auslegung. Das Verbot des Buchdrucks arabischer Alphabetzeichen durch osmanische Sultane und Kalifen ab 1485 führte auch zu einer langen Verzögerung der Medienentwicklung und Alphabetisierung, die bis heute gravierend nachwirkt. So blieb gegen die Vorherrschaft der oft mit den Herrschenden verbündeten Schriftgelehrten (Ulema, Muftis) wenig mehr als die religiöse Mystik, der Sufismus, um in Formen von Verhalten, Liedern und Lehren auch Protest zu äußern. Die gewaltsame Modernisierung des zerfallenden Osmanischen Reiches zur Republik Türkei durch Kemal Atatürk (1881–1938) schloss daher die Abschaffung der arabischen und die Einführung der lateinischen Alphabetschriften ebenso ein wie das Verbot religiöser Kleidung, die Unterwerfung der Prediger und Muftis unter ein staatliches Religionsamt und das Verbot aller religiösen Sufi-Orden, die sich nicht auf den Privatbereich beschränken wollten. Es wird dabei gerne vergessen, dass nicht wenige – etwa indische – Muslime statt einer Abschaffung des islamischen Kalifates diesen Titel lieber Atatürk selbst übertragen hätten; die Vorstellung einer islamischen Gemeinschaft, die aus sich und für sich selbst spricht, ist vielen bis heute unerträglich. Neben unzähligen säkularen Übernahmen etwa sozialistischer und nationalistischer Prägungen und islamisch verbrämten Oligarchien (Emirate) hat sich der Iran in der Mischform einer Republik mit islamischer Gelehrtenherrschaft versucht. Das konkurrierende, sunnitische Saudi-Arabien präsentiert sich mit der Fortdauer einer gotterwählten Familie und bildet inzwischen den letzten Staat der Welt, der nach seiner Herrscherfamilie benannt ist. Aber auch die Terrormiliz des selbsternannten »Islamischen Staates« scheiterte mit der Ausrufung eines neuen, islamischen Kalifates. Selbst in der Türkei und in Tunesien dominieren heute autoritäre Anführer, die beanspruchen, den Willen des Volkes und der Gottheit in sich zu verkörpern – und daher keine oppositionelle Rede dulden.

Europa und die dualistische Verschwörungsrede

Doch auch Europa tat sich schwer: Gegen die progressive, religiös-politische Redensform der Jeremiade entwickelte sich hier auch die negative, oft antisemitische Warn- und Verschwörungsrede gegen die Verschränkung von Thronen und Altären – so etwa auch im revolutionären Frankreich und im biedermeierlichen Deutschland. Die Verschwörungsrede ist ebenfalls warnend und fordert ebenfalls zum Handeln auf, doch identifiziert sie im Gegensatz zur Jeremiade keinen Missstand (wie Gewalt oder Alkoholmissbrauch), an dessen Behebung die Adressaten selbst zu beteiligen wären, sondern identifiziert einen drohenden, alleinschuldigen Feind. [...]


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