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REFLEXION
Joachim Valentin
Vollendete Gegenwart als Kern der Religionen?
Zur räumlichen Anwesenheit gehört die zeitliche Gegenwart: Präsenz und Präsens stehen in unmittelbarer Beziehung und bedingen sich gegenseitig. Ferne und Nähe, Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft: Überzeitliche ebenso wie den Raum überschreitende Dynamiken stehen im Zentrum religiöser Weltzugänge, stehen im Zentrum der Möglichkeit von Offenbarung. Wie lässt sich dies theologisch verstehen?
Theologische Lexika, seien sie exegetischer oder systematischer Natur, behandeln die Themen »Gegenwart« und »Präsenz« – die Begriffe meinen dasselbe – erstaunlich stiefmütterlich: Sie tauchen kaum als Stichworte auf. Dabei ist die Frage nach der unmittelbaren Begegnung zwischen dem Heiligen und dem Profanen, zwischen Gott und Mensch, zwischen Jesus und den Menschen, die ihm begegnen, überhaupt ja erst der Beginn des zentralen Themas von Religion, wie nämlich der rein geistig verfasste Gott und seine gewaltige überzeitliche Existenz den material verfassten Menschen aller Zeitalter und Weltgegenden gegenwärtig werden kann.

Der Mensch im Fluss der Zeit

Philosophisch ist Gegenwart von Zukunft (zukünftige Gegenwart) und Vergangenheit (vergangene Gegenwart) als das zu unterscheiden, was jeweiligen Betrachter*innen unmittelbar und im Moment über die eigenen Sinnesorgane zugänglich ist. Die Wahrnehmungspsychologie definiert hier ein kleines Zeitfenster von wenigen Sekunden – eine Gedicht- oder Liedzeile lang – als das, was wir als gegenwärtig wahrnehmen. Der Philosoph Edmund Husserl hat allerdings in seiner Philosophie des inneren Zeitbewusstseins von diesem »Jetzt« nicht viel übrig gelassen: Was wir gegenwärtig wahrnehmen, zerrinnt uns buchstäblich zwischen den Fingern. Der Augenblick, und sei er noch so schön, will einfach nicht »verweilen« (Goethe), sondern wird, als Zukunft lange erhofft, dann doch in Sekundenbruchteilen zu Vergangenheit.

Gerade weil dieses Aufgespanntsein des Menschen in einen unabänderlich fließenden Zeitstrom als zutiefst unbefriedigend, ja als dauernde Erinnerung an die eigene Vergänglichkeit, gar den Tod wahrgenommen wird, ist es vielleicht tiefstes Bedürfnis gerade des religiösen Menschen, der Flüchtigkeit unserer alltäglichen Gegenwarten zu entkommen – in beide Richtungen des Zeitstrahls.

Vergangene Heilsereignisse immer wieder zu vergegenwärtigen, oft gebunden an die sich im Jahreslauf wiederholenden fixen Termine, gerne symbolisiert durch die Konstellation der »ewigen« Himmelskörper Sonne, Mond und Sterne, ist deshalb von alters her Gegenstand religiöser Rituale. Bereits die astronomisch fixierten Pyramiden des alten Ägypten und das mysteriöse Steinheiligtum von Stonehenge in Südengland, ebenso wie andere prähistorische Bauten sind Zeugnisse der uralten Sehnsucht der Menschen, die flüchtigen Gegenwarten ihrer dahinrasenden Lebenszeit zu transzendieren in immer wiederkehrenden Festen an bestimmten Orten wie den verschiedenen Sonnenwendfeiern und Festen der Aussaat und Ernte, Frühling, Sommer, Herbst und Winter.

Gegenwart als in Gott stehende Zeit: Nunc Stans

Doch die Hochreligionen Judentum, Christentum und Islam sind mit solcherlei Beruhigungstechniken durch zirkuläre Fixpunkte und gemeinsame Vergegenwärtigungen des Immergleichen nicht zufrieden. Sie verstehen Geschichte zwar auch in sich wiederholenden Jahreskreisen, aber zuerst als linear von Schöpfung zu Weltvollendung verlaufende Heilsgeschichte, die nicht einfach sinnlos zerfließt und nach aus grauen Alltagen herausragenden, für sich gegenwartsintensiven »Events« im Nichts zerfällt.

Das menschliche Leben als Kette von Augenblicken wird in den monotheistischen Religionen vielmehr verstanden als an jedem einzelnen Punkt unmittelbar zu dem ewigen, und das heißt allgegenwärtigen Gott, der über und zugleich in allen zirkulären Naturphänomenen als deren Urgrund verborgen liegt. Jeder Augenblick hat damit das Potenzial, zur Tür zu werden, durch die der Messias eintreten kann (W. Benjamin), ist also potenziell »vollendete Zeit«. Stehende Zeit also, die nicht mehr vergeht, ein Jetzt, das nicht mehr verrinnt und zur Vergangenheit wird, sondern das wie Gott alle Potenzialitäten, alle Möglichkeiten menschlichen Lebens, aller Freude und Trauer, aller Liebe und allen Hasses ausschöpft. Martin Heidegger versteht für den Moment, in dem Sein und Zeit ganz miteinander verschmelzen und der Mensch sich nicht mehr an Einzelnes, Dingliches, Vorläufiges an »Seiendes« verliert, Vergangenheit und Zukunft nur noch als Ekstasen der einen Gegenwart. [...]


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