Seit über 3000 Jahren stellen Menschen die Frage nach der Seele und finden immer neu ihre Antworten. Dabei ist erstaunlich, dass die Existenz der Seele kaum bestritten wird. Durch alle Zeiten hindurch, in allen Religionen und auch vom atheistischen Standpunkt aus gehen Menschen auf verschiedenste Weise davon aus, dass es in uns etwas gibt, das mit dem Wort ›Seele‹ gut umschrieben ist, ob als Innerlichkeit oder Einzigartigkeit, als Lebensprinzip oder als das Unsterbliche in uns.
Die Seele als Palimpsest
In seiner faszinierenden Kulturgeschichte der Seele begreift Ole Martin Høystad (vgl. den Beitrag im vorliegenden Heft) die Seele als ein »Palimpsest«. So nannte man im Mittelalter die Manuskripte: Auf dem seltenen und kostbaren Pergament wurden die Wörter immer wieder weggewaschen oder abgeschabt und mit neuen überschrieben. Der Mensch formuliert in seiner Gesamtgeschichte immer wieder neue Sprachbilder für die Seele und ›erschafft‹ die Seele somit ständig neu, ohne die alten Bilder zu vergessen und ohne zu meinen, die Seele endgültig erfasst zu haben.
»Tief in dir und doch so nah wie nichts anderes,
mal hier, mal da, mal fern, mal nah, tatsächlich überall,
da wohnt ein Geheimnis, das wir nie verstehen werden,
da gibt es etwas, für das kein Wort genug ist.
Und dennoch haben die Menschen eins gefunden,
das diesem Wunder so nah kommt wie kein anderes.
›Seele‹ heißt das Zauberwort, das nichts erklärt, doch so viel bedeutet.
Seit es Menschen gibt auf der Erde, sprechen sie von der Seele in ihnen.
Auch die Pflanzen und die Tiere, alle Lebewesen haben eine Seele.
In alten Sprachen heißt sie nefesch und ruach und anima und psyche,
übersetzt Kehle, Atem, Hauch, Wind: Wörter mit Sanftmut und Kraft.
In unserem Wort ›Seele‹ steckt das Wort ›See‹, ein Wort mit Tiefe.«
(Oberthür 19)
Das Interesse des Menschen am Phänomen der Seele beginnt bereits früh. Schon Kinder – so meine Erfahrung in vielen Gesprächen im Religionsunterricht – fragen begeistert und fasziniert nach der Seele und finden mitunter geniale Antworten: »So was Ähnliches wie das Herz ist die Seele und doch ganz anders.« – »Die Seele ist zart und ist im Blut.« – »In der Seele fließen Angst und Liebe.« – »Die Seele ist eine Sonne im Menschen.« – »Wir selbst sind die Seele. « – »Die Seele ist eine Verbindung zu Gott.« – »Die Seele ist das von Gott in mir.« – »In der Seele ist Gott.« Ich denke, diese Faszination liegt darin begründet, dass die Frage nach der Seele die Kinder in ihrer doppelten Begabung anspricht: Zum einen wollen sie als Realisten die Seele konkret verorten, zum anderen wissen sie als Philosophinnen und Theologen intuitiv, dass es dabei um ein weit größeres Geheimnis geht, das zwar ihre tatsächliche Wirklichkeit und Wahrnehmung bestimmt, aber nicht zu ›begreifen‹ ist.
So entdecken wir das Geheimnis gemeinsam. In der Frage nach der Seele und unseren Antworten zur Seele spiegeln und bündeln sich zahlreiche weitere ›große Fragen‹. Was ist der Mensch? Wie verhalten sich Seele und Körper zueinander? Gibt es im Menschen eine Instanz, die denkt, fühlt und unsere Einzigartigkeit ausmacht? Wo ist sie zu finden? Wie kommt der Mensch in Beziehung zu Gott? Ist das Göttliche in ihm? Gibt es etwas, das den Tod überdauert? Was geschieht damit und mit uns nach dem Leben? Unser Nachdenken über die Seele berührt Grundfragen des Daseins und das Mysterium unserer Existenz.
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