archivierte Ausgabe 1/2021 |
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Helga Kohler-Spiegel |
Use it or loose it – Tugend einüben |
Beim tugendhaften Verhalten geht es nicht darum, heroisch zu sein und heldenhafte Taten zu vollbringen. Vielmehr ist das Ziel, mit sich selbst und anderen gegenüber in Beziehung, in Resonanz und in Verbindung zu bleiben. Dies ist eine lebenslange Aufgabe, die jedoch schon mit den kleinsten Dingen des Alltags angegangen werden kann. |
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Das mit der Tugend war in meiner Kindheit eher schwierig. Einerseits wurde erwartet, dass ich mich als Mädchen ›tugendhaft‹ benehme, also ›brav‹ sein und ›schamhaft‹ und ›keusch‹. Zugleich waren wir fasziniert von ›tugendhaftem Verhalten‹: In unseren Kinderbanden war gefordert, dass wir vor allem tapfer und gerecht, aber auch besonnen und klug sein mussten (um die platonischen Tugenden zu zitieren), und prosozial – wir sammelten Flaschenverschlüsse aus Metall, weil wir gehört hatten, dass eine gewisse, recht große Anzahl davon es ermöglichen würde, für ein Kind mit Beeinträchtigung einen Rollstuhl zu kaufen.
Im Zusammensein mit anderen Kindern und mit Erwachsenen entwickelt sich ein Einüben von Tugenden, das nicht reflexiv, sondern emotional-handelnd entsteht. Rudolf Englert führt aus: »Tugenden nun sind Haltungen gegenüber einem ethisch relevanten Sachverhalt, bei denen eben nicht nur der Verstand eine Rolle spielt, sondern genauso auch die Affekte und der Wille« (vgl. den Beitrag von Englert im vorliegenden Heft).
»Versuch es«
»Stell dich mitten in den Regen, glaub an seinen Tropfensegen, spinn dich in das Rauschen ein und versuche gut zu sein! […]« (Borchert 470)
Im Hier und Jetzt mich einzulassen auf das, was da ist, offen wie ein Kind und präsent, verbunden mit dem Versuch, »gut zu sein«, beschreibt für mich die Haltung der Tugenden im oben genannten Sinn. Für Aristoteles ist das der Weg zum Glück; Glück meint hier kein subjektives Glücksempfinden, sondern ein Leben, das glückt. Denn der Begriff zielt auf das Ende ab – ein geglücktes, ein gelungenes Leben. Und wenn es also um gelingendes, glückendes Leben geht – wie können auch Kinder, Schülerinnen und Schüler es lernen und einüben, »gut zu sein«?
Emotionen entwickeln und üben – oder: Im Dialog
Immer wieder mag ich daran erinnern: Die Basis dafür sind Erfahrungen von Beginn des Lebens an, wenn Mutter und Vater und alle anderen Bezugspersonen mit dem Kind in emotionalen Dialog treten, wenn das Baby erlebt, dass seine Emotionen wahrgenommen und aufgenommen und beantwortet werden, dass auf sein Signal hin jemand da ist und in Kontakt mit ihm tritt, dass es sich aber auch wieder wegdrehen und Ruhe haben kann. Babys brauchen diesen ständigen Dialog von In-Kontakt- Kommen und wieder Zu-sich-selbst-Kommen, von Zuwendung und Wegwenden, von Anspannung und Entspannung – und sie lieben ihn auch. Sie brauchen aber auch Gegenüber, die diese Dialoge nicht nach ihren eigenen Bedürfnissen vollziehen, sondern entlang den Signalen der Kinder, indem sie diese aufnehmen und spiegelnd beantworten. Das klingt schwierig – doch die meisten Eltern machen das intuitiv.
Diese Erfahrung, dass das eigene Verhalten eine Reaktion beim Gegenüber auslöst, dass Gefühle kommunizierbar sind und dass Menschen und Dinge beeinflussbar sind, stärkt das Vertrauen in die Welt. Und Vertrauen ist eine Tugend (vgl. Englert). Also – wir üben Vertrauen, wenn wir uns darauf einlassen, Gefühle wahrzunehmen, zu benennen, zu steuern und auszudrücken. Damit stärken wir das Vertrauen in uns selbst, die Selbstsicherheit und die Selbstwirksamkeit, wir lernen, uns zu regulieren und zu beruhigen. Die eigenen Gefühle gut wahrzunehmen und auszudrücken, verbindet uns auch mit anderen Menschen, weil wir emotional sichtbar sind, weil sie uns emotional »lesen « und uns beantworten können (vgl. Kohler- Spiegel 229ff). Das stärkt, tröstet, verbindet …
Das Denken entwickeln und üben – oder: Philosophieren
Zurück zur eigenen Erfahrung als Kind: Auch das Nachdenken war Teil des Kinder- und Jugendlebens. Kinderbücher und später literarische und philosophische Werke, Gespräche im familiären Umfeld und mit Freunden, nächtelanges Reden über »Gott und die Welt« und wie wir uns richtig in dieser Welt verhalten sollen und wollen – vieles hat angeregt nachzudenken und weiterzudenken. Exemplarisch sei auf Oscar Brenifier verwiesen (vgl. Brenifier), er philosophiert mit Kindern zur Frage: »Solltest du anderen helfen?« und nennt die Haltung dahinter »Großmut«. Zu »Gehorsam« denkt er mit Kindern darüber nach: »Solltest du immer auf deine Eltern hören?«, und zur Freundlichkeit: »Musst du freundlich sein zu anderen?«
Haltung entwickeln und üben – oder: Tun
Zahlreiche Studien bestätigen den Zusammenhang von konkretem prosozialem Verhalten und Glücksgefühlen, Philippe Tobler und Ernst Fehr, Universität Zürich, beforschen zum Beispiel den Zusammenhang zwischen Großzügigkeit und Glücksgefühl. Sie zeigten, dass bereits ein bisschen Freigiebigkeit genügt, um den »warm glow« – das wohlige Gefühl im Anschluss an eine großzügige Handlung – zu erleben. Interessanterweise wird der »warm glow« auch erlebt, wenn nur das Versprechen für diese Handlung ausgesprochen wird. Das bedeutet, dass bereits der Vorsatz zu einer neuronalen Veränderung und zu diesem wohligen Gefühl führt (vgl. Park u.a.).
Ein Übungsweg
Dass tugendhaftes Verhalten nicht einmalig erworben wird und dann ein lebenslanger Selbstläufer ist, dürfte selbstverständlich sein. Religionswissenschaftlich lässt sich der Blick öffnen auf Anleitungen und Hilfen aus verschiedenen Religionen, um in diesem lebenslangen Training zu bleiben. Was aber kann dafür dienlich sein?
Es geht nicht darum, heroisch zu sein und heldenhafte Taten zu vollbringen, sondern mit sich selbst und anderen gegenüber in Beziehung, in Resonanz und in Verbindung zu bleiben – ›to care‹ ist ein treffliches Wort für dieses Verständnis von Tugend. Und dann ist nur noch wichtig, eine Liste zu machen mit all den Dingen, die uns in der Fürsorge für uns und für andere stärken, und die uns mit uns, der Welt und Gott verbinden, um sich auch an mühsamen Tagen daran zu erinnern, was helfen könnte. Nun können wir alles aufzählen, was wir bereits als hilfreich erlebt haben:
• sich um ein anderes Lebewesen kümmern: jemanden anrufen, der Nachbarin kurz helfen, einen Brief schreiben oder eine Postkarte, Pflanzen gießen oder sich um ein Tier annehmen … • sich um mich kümmern: an die frische Luft gehen, sich bewegen, etwas Feines kochen und essen, ein anregendes Buch, ein Film, mein Tagebuch, eine Schublade aufräumen … • mich spirituell und religiös verbinden: überlegen, wofür ich heute dankbar bin, Bäume, Blumen oder Gräser betrachten, eine Kirche besuchen und sich niedersetzen, eine Kerze anzünden, sich in ein Gebet vertiefen …
Es hilft, dem Tag eine Struktur zu geben – und selbstverständlich Ausnahmen zuzulassen. Zur Rhythmisierung des Tages und der Woche gehören konkrete Anregungen:
• einen Text pro Woche lesen, der mich anregt zum Weiterdenken – so sehr, dass ich jemandem anderen davon erzählen mag • einmal pro Woche ein Kinderbuch anschauen oder ein Gedicht auswendig lernen • zwei- oder dreimal wöchentlich Zeit für Bewegung aussparen, gehen, laufen, Rad fahren – wie auch immer • emotionales Aufräumen kann mithilfe eines Tagesbuches geschehen, um zu erinnern, was die Tage nach außen prägt und was mich nach innen beschäftigt, um die Emotionen zu benennen und zugleich im Tagebuch abzulegen • ein Rhythmus für das Gebet – ein paar Worte oder Gedanken mit Bitten, Dank und manchmal Klagen, um verbunden zu sein mit sich und der Welt und dem, den Menschen »Gott« nennen
Als Kind war ich noch zuversichtlich, dass es Sinn macht, »gut zu sein«. Diese kindliche Zuversicht hat sich im Lauf der Jahre verändert. Geblieben aber ist die Gewissheit, »gut sein« zu wollen – und mich auch weiterhin darum zu bemühen.
»[…] Stell dich mitten in den Wind, glaub an ihn und sei ein Kind, lass den Sturm in dich hinein und versuche gut zu sein! […]« (Borchert 470)
Literatur
Borchert, Wolfgang, Das Gesamtwerk (hrsg. von Michael Töteberg, unter Mitarbeit von Irmgard Schindler), Reinbek bei Hamburg ³2013. Brenifier, Oscar, Gut und Böse. Was ist das? (Philosophieren mit neugierigen Kindern), Köln 2010. Englert, Rudolf, Lässt sich mit Tugenden heute noch etwas anfangen?, in: KatBl 1/2021, 12–17. Erlbruch, Wolf, Die große Frage, Wuppertal 72006. Kohler-Spiegel, Helga, Emotionales Lernen im Religionsunterricht, in: Münchner Theologische Zeitschrift 66 (2015), 292–302. Park, Soyoung Q./Kahnt, Thorsten/Dogan, Azade/ Strang, Sabrina/ Fehr, Ernst/Tobler, Philippe N., A neural link between generosity and happiness, in: Nature Communications, July 11 (2017), DOI: 10.1038/ ncomms15964.
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